Fast weg – Kiebitze in Volmerswerth

Aquarell
Text und Aquarell: Christine Kammel

„Es gibt Tage, an denen ich mir wünschte, ich hätte die Vögel nie entdeckt.“ Diese Worte schreibt Johanna Romberg am Anfang des Kapitels über Kiebitze und andere Wiesenbrüter in ihrem Buch „Federnlesen“. Genau so geht es auch mir, wenn ich im Frühjahr das Leben der Kiebitze in der Nähe meiner Wohnung in Volmerswerth verfolge. Denn diese Vögel, deren Bestand in den letzten Jahren dramatische Einbußen erlitten hat, haben es wirklich nicht leicht und ein empathischer Beobachter durchlebt viele Höhen und Tiefen.


 Dabei hat alles so vielversprechend angefangen. Bereits im März trafen die ersten Kiebitze ein, um sich zunächst im Schutz der Blumentöpfchen von den Strapazen des Zuges auszuruhen. Einige Woche später machten die ersten Kiebitzmännchen mit ihren spektakulären, von wilden Rufen begleiteten Flugmanövern auf sich aufmerksam. Anfang April begannen dann die ersten Paare zu brüten.

 

Insgesamt habe ich in diesem Jahr in Volmerswerth mindestens 6 Brutpaare beobachtet und 10 Gelege gefunden. Das ist für Düsseldorfer Verhältnisse fast schon spektakulär viel. Nur an zwei weiteren Stellen haben Kiebitze gebrütet: 8 Paare am Flughafen und ein Paar in Himmelgeist. Also erst mal ein Grund zur Freude.

 

Doch trotz der durchaus erfolgreichen Bemühungen zum Gelegeschutz durch Absprachen zwischen der Biologischen Station und den Landwirten ist es fraglich, ob in Volmerswerth auch nur ein einziges Küken flügge geworden ist. Mit welchen Schwierigkeiten die Kiebitze zu kämpfen haben, wird deutlich, wenn man das Schicksal eines Paares verfolgt.

 

Paar Nr.6 – ich habe alle Brutpaare chronologisch durchnummeriert – findet sich Anfang Mai auf einem gepflügten, noch unbepflanzten Feld zur Balz ein. Kiebitze wählen gerne kahle Äcker zum Nisten, da die braune Erde einem Moor, ihrem ursprünglichen Brutgebiet, ähnelt und einen guten Blick auf potentielle Feinde ermöglicht. Sie können schließlich nicht wissen, dass die Menschen planen, hier Kohl anzupflanzen.

 

Ein paar Tage später entdecke ich das Weibchen in typischer Weise auf dem Boden hockend: Sie hat angefangen zu brüten. Noch am selben Abend kommt Monika Neubauer vom NABU, um mit mir das Gelege zu suchen – was wegen der tarnfarbigen Eier gar nicht so einfach ist – und mit langen Stäben zu markieren. Das war gerade rechtzeitig, denn am nächsten Tag wird das Feld mit dem Traktor bearbeitet. Dank der Markierungsstäbe kann der Landwirt den Nistplatz umfahren und die Kiebitze können in Ruhe ihre beiden Eier ausbrüten.

 

4 Wochen später schlüpfen die beiden Küken. Noch etwas wackelig auf den Beinen erforschen sie schon die unmittelbare Umgebung ihres Nistplatzes. Kiebitzküken sind Nestflüchter, die ihre Nahrung selbst finden müssen. Ihre Eltern bewachen und hudern (wärmen) sie und führen sie an Stellen, wo es Schutz und Insekten gibt. Der Acker, auf dem die Küken ausgebrütet wurden, gleicht einer Wüste. Daher wandert die Familie schon bald zum Nachbarfeld. Hier wachsen Blumen in Töpfen. Die Blüten locken Insekten an. Und auch durch die regelmäßige Bewässerung gibt es hier immer Kleinstlebewesen. Außerdem sind die Küken zwischen den dicht stehenden Töpfchen vor den stets anwesenden Krähen gut geschützt. Also der ideale Ort für die Aufzucht der Jungen – so scheint es.

 

Doch nach zwei Tagen beobachte ich dramatische Szenen. Einige Arbeiter räumen die Blumentöpfe, zwischen denen sich die Küken aufhalten, ab. Das Kiebitzweibchen kreist laut rufend über den Köpfen der Menschen. Eine Frau schlägt mit der Jacke nach ihr, verfehlt sie aber glücklicherweise. Die beiden Küken ducken sich neben einen Stein auf dem Weg. Die Arbeiter gehen achtlos daran vorbei, treten beinahe auf die gut getarnten, reglosen Körper. Am Abend finde ich die Kiebitzfamilie an einer anderen Stelle, ein Küken fehlt.

 

Ein paar Tage später kann ich das Küken von Paar Nr. 6 nicht entdecken. Die Kiebitzmutter läuft aufgeregt an einem Entwässerungsgraben auf und ab. Immer wieder späht sie hinein. Ich ahne schon, was passiert ist und laufe schnell zu der Stelle. Und tatsächlich: Das Küken hockt im Graben! Aus eigener Kraft kann es dort nicht wieder heraus. Die Wände sind fast senkrecht und mit einer Kunststoffplane ausgekleidet. Ich hebe das kleine Federknäuel heraus und ziehe mich zurück. Hoffentlich ist es nicht schon zu sehr entkräftet und ausgekühlt. Doch am nächsten Tag sind alle drei Familienmitglieder gesund und munter.

 

Als das Küken fast drei Wochen alt ist, wird die Kiebitzfamilie erneut durch Arbeiten auf dem Feld gestört. Und wieder ist es das Weibchen, das wie die Versinnbildlichung einer Helikoptermutter Scheinattacken gegen die Menschen fliegt. Es ist das letzte Mal, dass ich sie sehe. Am nächsten Tag sind nur das Kiebitzmännchen und das Küken zu finden.

 

Noch eine Woche lang sehe ich die beiden fast täglich. Das Küken ist 4 Wochen alt und deutlich gewachsen. Flügge ist es jedoch noch nicht. Es trägt noch weiche Daunen. Dann sehe ich an zwei Tagen nur noch das Männchen. Schließlich ist auch dieses nicht mehr zu finden.

 

Zugegeben: Ich bin keine wissenschaftlich-objektive Beobachterin. Mir geht es nicht um Zahlen und Tabellen. Mir sind die Kiebitze aus ganz persönlichen Gründen wichtig: Mir würde ein entscheidendes Stück Lebensqualität verlorengehen, wenn in meinem Stadtteil im Frühjahr nicht mehr die wilden „kiju-witt“-Rufe zu hören wären. Deshalb werde ich mich weiter für den Schutz dieser so besonderen Vögel einsetzen, auch wenn ich manchmal nahe dran bin, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Denn eins habe ich von den Kiebitzen, die bis zu vier Brutversuche pro Saison unternehmen, gelernt: Nicht beim ersten Scheitern aufgeben!